Die neue Mitbewohnerin
Meine Freundin hat einen Teil ihrer Wohnung für die Zuversicht frei geräumt.
Die Besuche waren in den letzten Jahren immer häufiger geworden und zuletzt hatten die beiden sich in einer Art Probewohnen geübt. Meine Freundin, die ich hier Wilma nenne, war sehr zuversichtlich, dass die Besucherin bleibt. Das gewohnheitsmäßige Gastrecht würde in ein lebenslanges Wohnrecht münden, so war der Plan.
Um es der Zuversicht gemütlich zu machen, hatte Wilma damit begonnen, jeden Tag mindestens eine gute Nachricht aufzuheben. Einen Zuversichts-Ordner hat sie angelegt, mit Berichten über Hoffnungsträger und Hoffnungsträgerinnen. So nennt Wilma die Menschen, deren Handeln auf ein friedliches Miteinander und den Schutz des Lebens und der Natur ausgerichtet ist. Wilma stellte sich vor, dass so wie ihr Ordner langsam und beständig wächst, auch die Zuversicht wächst. Ausbreiten würde sie sich in ihrer Wohnung und jedes Mal wenn Wilmas Enkelkind zu Besuch kommt, soll es etwas abhaben, von dieser Zuversicht. Das Enkelkind würde mit der Zuversicht wachsen. Schön und groß und stark würde es werden. Dieser Gedanke gab Wilma jedes Mal ein warmes und wohliges Gefühl, das vom Bauch aus in den gesamten Körper ausstrahlte, in die Beine und in die Füße und gleichzeitig in die Brust und über die Arme in die Hände und über den Rücken, der sich aufrichtete, über den Hals ins Gesicht gelangte und dann dieses geheimnisvolle Lächeln auslöste.
Gestern Abend wollte die Zuversicht noch mal schnell um den Block ziehen und gucken was bei den Mitmenschen so los ist. Gute Nachbarn sind ja schließlich auch nicht zu verachten. Und dann war sie um Mitternacht immer noch nicht zurück. Da wurde es meiner Freundin schon etwas mulmig. Um 2 Uhr morgens lag sie immer noch wach, allein in der Wohnung und das Herzrasen ging los. In ihrer Not rief sie den Krisendienst an. Die Dame am Telefon konnte sie beruhigen und um 5 Uhr morgens hörte Wilma das leise Knarren der Wohnungstür. Sie atmete auf. Doch dann hielt sie die Luft an. „Die Depression hat ja auch noch einen Schlüssel“, schoss es ihr durch den Kopf.
„Atmen“, dachte Wilma, „einfach nur Atmen“. Und beim dritten Ausatmen hörte sie diesen zärtlichen Singsang im Flur. Es war die Zuversicht, die den Weg nachhause gefunden hatte.
Ich bedanke mich bei meiner Freundin Wlima für die Wortgeschenke und die anregenden Ideen zur Wohnraumgestaltung.