Wir haben 30 Minuten Zeit um einen Text über Freundschaft zu schreiben. Ich schalte Kamera und Mikro aus, gehe in die Küche und esse mein Joghurt. Ich weiß, die Dozentin möchte, dass wir eine Szene beschreiben. Ich würde gern szenisch schreiben, mit Spannungsbogen und Dramatik und einem lustigen Ende.
Ich habe Bilder von Freundschaft im Kopf aber es entsteht keine Szene, in der sich eine Freundschaftsdramatik entwickelt, mit einem lustigen oder wenigstens einem überraschenden Ende.
Ich sitze mit Aadil am Kanal und wir beobachten die Menschen. Er nennt mich Freundin und wenn ich von ihm erzähle, spreche ich von einem Freund oder einem guten Freund. Ich mag seine Nähe, wir sitzen dicht aneinander, lehnen uns aneinander an, und manchmal schwingen wir ein wenig hin und her, im gleichen Rhythmus. Manchmal küsst er mich auf die Hand oder die Stirn oder die Schulter. Auf den Mund würden wir uns niemals küssen. Wir sind ja kein Liebespaar. Und wir werden auch niemals eins werden.
Es gibt Menschen, die kenne ich seit vielen Jahren. Wir waren füreinander da, wenn wir uns brauchten und ich würde sagen, wir sind in Freundschaft miteinander verbunden, auch wenn wir uns immer seltener sehen. Es gibt zwei Frauen, die ich erst wenige Jahre kenne. Wir haben viel miteinander gelacht, und wir sind auch durch die ein oder andere Krise miteinander gegangen. Wir wissen, dass wir sind füreinander da sind. Wir sind Freundinnen und werden auch so gelesen.
Ich bin in einem Schreibforum, in dem sich viele Menschen tummeln, alle sind hier mit Pseudonym unterwegs. Wir nennen uns Schreibfreundin oder Schreibfreund. Das gefällt mir. Wir kennen nur unsere Texte, keine weiß, wie die oder der andere aussieht. Doch wir sind einander vertraut. Und wir gehen liebevoll miteinander um, wenn wir unsere Geschichten kommentieren und wir machen uns Mut, stellen Fragen, die uns zum weiterschreiben ermuntern.
Freundschaft.
Ich denke an Ulli. Sie hat sich zurückgezogen und ich frage mich, ob sie noch Freundin ist. Ich denke an Kerstin, die mich Freundin nennt und ich weiß gar nicht ob ich das möchte, dass sie mir diesen Titel verleiht. Ich denke an Birgit, sie ist Kollegin, sie unterstützt mich und sie macht mir Mut, wenn ich zweifle. Ich fühle, dass ich ihr wichtig bin. Fühle mich fast schon geliebt.
Ich denke „Spuren von Liebe“. Und ich denke, dass die Spuren von Liebe in verschiedenen Beziehungen zu finden sind.
Die 30 Minuten sind um. Ich stelle fest, dass mich das Thema Liebe viel mehr interessiert als die Freundschaft. „Wichtig sind die Spuren von Liebe die wir hinterlassen, wenn wir gehen“. Ich weiß nicht wo ich diesen Satz gelesen habe, und ich weiß nicht wem dieses Zitat zugeschrieben wird. Ich weiß, dass mir dieser Satz gefällt und ich weiß, dass ich Spuren der Liebe hinterlassen möchte – nicht erst wenn ich auf die letzte Reise gehe – sondern jeden Tag.
GKM