Jan Wegner

26.12.2024 | Begegnung, biografische Skizze

Dass es hier morgens um 10 schon so voll ist, damit habe ich nicht gerechnet. Ein Bewerbungsgespräch im Cafe, das hatte ich auch noch nicht.

„Die Renovierungsarbeiten sind fertig, aber die Räume werden erst am Donnerstag freigegeben“, hat er geschrieben, und den Kennenlerntermin wollte er um eine Woche verschieben oder einen anderen Ort auswählen.   

Verschieben wollte ich nicht. Ich brenne vor Neugier, nicht nur weil Johanna, meine Ex-Kollegin, die ebenfalls gerade auf Jobsuche ist, so angetan war von ihm. Ich will weg hier, ich halte es da, wo ich vor zwei Monaten angefangen habe, nicht mehr aus. Und ich will wissen ob die Arbeit bei diesem neuen Jugendhilfeträger in meinem Lieblingsbezirk eine Perspektive für mich sein könnte.

Also, wie mag er aussehen? Jan Wegner, der junge Mann, der einfach mal so eine gemeinnützige Unternehmensgesellschaft gründete und macht, was auch ich gern getan hätte, allerdings nicht allein. „Zu viel Arbeit“, „das dauert zu lang“, „dieser Aufwand, bis das beim Senat durch ist“ … Niemand von den Menschen, mit denen ich gerne arbeite, hatte Lust, ein eigens kleines Unternehmen auf die Füße zu stellen.

Ich schaue mich um. Bis auf einen Tisch, gleich am Eingang, ist keiner mehr frei. Drei Tische gibt es, an denen jeweils ein Mann allein sitzt. Der mit dem Dutt könnte Sozialarbeiter sein, aber wenn er hier verabredet wäre, würde er Richtung Tür schauen, und er hätte längst Blickkontakt aufgenommen, mit mir, der suchenden Frau, und er würde seinen Kopf nicht in der Speisekarte versenken. Nummer zwei könnte Geschäftsmann sein, er schaut Richtung Tresen, dann zu mir, er steht auf, doch sein Blick gilt nicht mir, sondern der Dunkelhaarigen, die sich gerade an mir vorbeischiebt und dann neben ihm Platz nimmt. Der dritte ist eindeutig zu alt, etwa so alt wie ich, und Jan Wegner ist jung, gerade mal Dreißig, hatte Johanna gesagt.  Ich beschließe draußen zu warten, da klingelt mein Handy, und einen Handgriff später, telefoniere ich mit dem Mann, der mir durch die Glastür schon zuwinkt. Er ist groß und kräftig, nicht dick, und er trägt einen schwarzen Wollmantel. Er reicht mir die Hand. Ich greife zu, und meine Hand passt genau in seine hinein, der Druck ist fest aber nicht zu fest, angenehm warm, kein labberiges Händeschütteln, ein sicherer Halt, der sich gleich wieder löst. Sein Gesicht strahlt, als ob er sich wirklich freut, mich zu sehen.            
„Wollen wir rausgehen? Das ist so gedrückt hier, also, die Atmosphäre bedrückt doch, oder? was meinst du?“   
„Genau das wollte ich auch gerade vorschlagen“. Die Luft hier ist stickig, ein Nebel aus Stimmen, es klappert Geschirr, und draußen scheint die Sonne.

Wir nehmen den Waldweg. Gelb – rot- goldenes Herbstlaub raschelt unter unseren Füßen, die Luft ist frisch und klar.

Zwei Stunden später reichen wir uns wieder die Hände. So offen und frei war noch kein Bewerbungsgespräch, und es wirkt nach. Seinen Dialekt kann ich nicht eindeutig zuordnen, die Melodie seiner Worte hat etwas vertrautes, ich bin mir sicher, dass Deutsch nicht die einzige Sprache ist, mit der er aufwuchs.  

Das war im November 2023.

Zwei Wochen später unterschrieb ich den Arbeitsvertrag, und da hatte es schon den ersten Zweifel gegeben. 25 Tage Urlaub hatte er eingetragen, das entsprach der gesetzlichen Vorgabe, und als freiwillige Zusatzleistung waren weitere 5 Tage definiert. „Das unterschreibe ich nicht. Da wäre ich ja deiner Willkür ausgeliefert. Jeder andere Träger bietet mir 30 Tage, und manche werben sogar mit einem zusätzlichen freien Tag“.

Der Vertrag wurde geändert.

In meiner Stellenbeschreibung gab es dann auch einige Passagen, die mich irritierten. Es waren Sätze, die Macht demonstrieren, die Macht des Arbeitgebers, und ich dachte „Naja, wenn er das braucht…“. Meine Neugier war viel zu groß als dass ich jetzt noch einen Rückzieher gemacht hätte, und in den folgenden Wochen und Monaten schluckte ich so manche bittere Pille, im Wechsel von Lob und Anerkennung. Die Ambivalenz, meine treue Begleiterin, wich nicht von meiner Seite. Es gab Missverständnisse, Meinungsverschiedenheiten, und immer wieder konnte eine gute Lösung gefunden werden. Bis zum September. Da dachte ich zum ersten Mal eine seiner Anweisungen mit „… oder ich kann kündigen“ zu Ende.

Fortsetzung folgt

 

 

 

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